Frau Ida und die Tommys in Lüneburg

Dieser Beitrag von mir erschien am 30.11.2019 in der Landeszeitung.

Lüneburg im Januar 1945. Ida flieht mit ihren vier Kindern aus Oberschlesien, ihr Mann Kurt ist noch im Krieg, und sie kommt bei ihrer Schwägerin in Lüneburg unter. Viele Jahre später reist ihre Enkeltochter Linda nach Lüneburg und taucht in die Geschichte der Großmutter ein. Die Autorin Tanja Langer, geboren 1962 in Wiesbaden, ist diese Enkeltochter – und ist es doch nicht. „Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday oder Die Erfindung der Erinnerung“ heißt ihr Buch, das in diesem Herbst erschienen ist. Ein anspruchsvolles Werk, das gleichermaßen zum Nachdenken anregt wie es unterhaltend ist.

„Es war einmal, und es war einmal nicht. So beginnen viele persische Märchen.“ Und so beginnt der Roman. Linda, die Erzählerin, ist Übersetzerin aus dem Persischen und hat eine lebhafte Fantasie. Ein Symposium bringt sie nach Lüneburg, und sie nutzt die Gelegenheit, mehr herauszufinden über den Ort, an dem ihre Großmutter einst lebte. Die Erzählung wechselt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Fantasie, die Grenzen verschwimmen. Im Mittelpunkt des Romans steht Ida Sklorz, eine kleine Frau, die im Kampf ums Überleben für sich und ihre Kinder über sich hinaus wächst. Es ist die Geschichte einer starken und mutigen Person, die Geschichte Lüneburgs unter britischer Besatzung und die Geschichte des englischen Kinos.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Nachkriegszeit mögen schon in vielen Werken geschildert worden sein. Doch tatsächlich gab es bisher wenig Literarisches über die britische Besatzung. Tanja Langer hat gründlich recherchiert und zeichnet in kunstvoller und plastischer Sprache ein schonungsloses Bild Lüneburgs in den späten 1940er-Jahren. Auf Ida warten in Lüneburg alles andere als rosige Zeiten. Ihre Schwägerin Dorothea nimmt sie nur widerwillig auf und begegnet ihr mit einer unvorstellbaren Härte. Ida, die selbst ein großes Herz hat, kann sich nur schwer abfinden mit den menschenunwürdigen Zuständen, unter denen sie jetzt leben muss. Aber sie beißt die Zähne zusammen – um ihrer Kinder Willen. Sie ist erfinderisch und arbeitet hart, bis zum Umfallen. Und sie sucht die Flucht aus der Realität in der Welt des Films. Es gab damals zahlreiche Kinos in Lüneburg, eines davon war die Schaubühne an der Neuen Sülze.

Nach dem Krieg kommen die Briten, und in Lüneburg entstehen zwei Parallelwelten: die der britischen Besatzer, „Tommys“ genannt, und die der besiegten Deutschen. Aus der Schaubühne wird das Astra Cinema, das englische Kino. Dort lernt Ida Mr. Thursday kennen, der das Kino leitet. Im Laufe der nächsten Jahre wandeln sich die Briten von einer harten zu einer hilfreichen Besatzungsmacht. „Frau Ida“, wie sie von den Briten genannt wird, findet Arbeit im englischen Kino, zunächst als Kartenabreißerin und Verkäuferin an der „Candy Bar“, und steigt schließlich zur Filmvorführerin auf. Die Geschichte des Films, über neue und immer gewagtere Inhalte und Techniken, bis hin zum Farbfilm, spielt in dem Buch eine zentrale Rolle.

Wer Lüneburg kennt und liebt, wird sich freuen, viele Orte in dem Buch von Tanja Langer wiederzufinden. Der Leser taucht ein in das Lüneburg der Nachkriegszeit, findet sich in den Straßen der Altstadt wieder, in der Bäckerstraße und der Kirche St. Nicolai, und so mancher erinnert sich vielleicht noch an das Union Theater (heute Capitol) an der Bardowicker Straße.

Hat es sich nun tatsächlich so zugetragen, und welche Rolle spielt eigentlich die Autorin selbst in dieser Geschichte, wie viel von Linda steckt in ihr? Tanja Langer lässt diese Frage bewusst offen. Ihre Großmutter, Margarete Nicolai (1908–1996), finde sich im Einwohnermelderegister Lüneburgs des Jahres 1948, verrät sie, und sie habe tatsächlich im englischen Kino gearbeitet, jedoch nicht als Filmvorführerin. Das Astra Cinema sucht man heute vergeblich an der Neuen Sülze. Es wurde 1964 abgerissen. Mittlerweile befindet sich an dieser Stelle ein Parkplatz.

Tanja Langer: „Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday oder Die Erfindung der Erinnerung“, Mitteldeutscher Verlag, 416 S., 18 Euro

Das Buch wurde mir freundlicherweise kostenlos vom Mitteldeutschen Verlag zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank dafür!

Fotos: links: © Mitteldeutscher Verlag, rechts: © Michele Corleone

 

 

2 Kommentare zu „Frau Ida und die Tommys in Lüneburg

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